Wahrnehmungsangebote

Lange vor dem Ausbruch aus dem euklidischen Raum durch Einstein, Bohr und Poincaré – oder durch Braque, Picasso und Malewitsch – veröffentlichte 1884 der englische Schuldirektor und Theologe Edwin A. Abbott ein Buch, das unsere „natürliche“ Wahrnehmung der Welt regelrecht auf den Kopf stellte. In „Flatland – A Romance of Many Dimensions By A Square“ erzählt Abbott von einem zweidimensionalen Wesen aus dem „Flächenland“, das sich in ein-, drei-, vier- und sogar nulldimensionale Räume hineinträumt. Dabei geht der Wechsel von einer Dimension in die nächste nicht nur mit einer dramatischen Ausweitung der Perzeption, sondern vor allem mit einer Neubewertung der gesellschaftlichen Ordnung einher – wer die Welt anders sieht, deutet und versteht sie anders. Die Wanderung des A. Square, jener Hauptfigur in Abbotts Novelle, wurde übrigens zu einem populären Erfolg und wirkte sich bewiesenermaßen auf die Genese des Kubismus aus.
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Wie mir scheint, geht es in dieser Kunst einerseits um die Bezüge von geometrischen Gebilden zueinander und andererseits – und vor allem – um die Bezüge von geometrischen Gebilden zum Körper des Betrachtenden. Die Wechselwirkungen zwischen einem rezipierenden Subjekt und einem Objekt, jener stumme, vielleicht unbewusste, jedenfalls körperliche Dialog, den jede Konfrontation zwischen Mensch und Ding hervorruft, ist ein zentraler Schlüssel der Erfassung von Heidtmanns skulpturaler Praxis. Ohne Publikum, ohne einen zuschauenden und reflektierenden Adressaten, haben diese Objekte keine Bedeutung. Neurologen haben festgestellt, dass das Gehirn eher an den Verhältnissen der Dinge zueinander und zum Raum interessiert ist als an den Dingen an und für sich. Dieses Interesse steigert sich noch, wenn es sich auf die Verhältnisse eines Dings zum eigenen Körper ausrichtet – der Raum, befreit vom darin handelnden Subjekt, ist nichts. Wir werden ständig von Relationen getriggert; viel stärker als die platonischen Gesetzmäßigkeiten der Geometrie nimmt der Mensch Verknüpfungen und Beziehungen wahr. Daran erinnert uns die Kunst von Brigitta Heidtmann.
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Ich möchte daher die Kunst von Brigitta Heidtmann als Wahrnehmungsangebot bezeichnen. Sie ist eine Übung im Wahrnehmen von Objekten, vom Raum und vom eigenen Platz in dem Raum; eine Übung zur Schärfung unserer Sinnesorgane, zur ständigen Überprüfung der physikalischen Welt und zur genauen, emotionsbefreiten Erfassung der in ihr enthaltenen Gegenstände. Die Künstlerin lädt zum präzisen Schauen von Längen-, Höhen- und Breitenverhältnissen ein, sie lädt zum ausdifferenzierten Betrachten von Oberflächenstrukturen und von grafischen Ordnungen ein, sie lädt zur Steigerung unserer Sensibilität für den Raum ein. Zu diesem Zweck stellt sie visuell-logische Rätsel in Form von Objekten und Installationen in den Raum, die es zu knacken gilt. Sie geht vom eigenen Spieltrieb aus, löst aber bei den Rezipientinnen und Rezipienten eine vergleichbare Lust aus, Wiederholungen und Variationen zu suchen, gestalterische Beziehungen zu entdecken, perzeptorische Sicherheiten infrage zu stellen. Die Kunst von Brigitta Heidtmann hat also etwas von einer Übung in angewandter Mathematik, in praktischer Geometrie – eine Übung im Sehen. Übrigens ist eine solche Übung nicht nur nützlich zur Entwicklung seiner perzeptorischen Fähigkeiten, sondern allgemein für die Bestimmung des eigenen Standortes und der Position, die darin eingenommen wird – denn wer die Welt genauer sieht, deutet und versteht sie genauer.

Dr. Emmanuel Mir im August 2022
(Auszüge aus dem Text des Katalogs »Brigitta Heidtmann - Raum und Konstruktion« 2022)

areale raum + grenzen

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Ähnliche Wirkmechanismen treten uns in Brigitta Heidtmanns Objekten entgegen. Ihren Konstruktionen mit architektonischem Charakter gehen konkrete Planungsarbeiten voraus, technische Zeichnungen, die im fertigen Objekt eine Körperlichkeit erhalten, der ihr zweidimensionaler Ursprung immer noch anzusehen ist. Am deutlichsten wird dies in Wandobjekten, die durch Wiederholung und Reihung einer Form zu einer Art Schraffur im Raum avancieren.
Heidtmann ist interessiert am Verhältnis der Linie zum und im Raum, von Volumen und Maß. Halbkugeln und konische Formen aus schmalen, von Hand oder seit kurzem mit Laser zurechtgeschnittenen Schichtholzleisten behaupten sich raumgreifend und sind gleichsam durch ihre skelettartige Struktur nicht dominant.
Beim Umschreiten und im Wechsel der Perspektiven wird die Wandelbarkeit der Strukturen und Formen evoziert. Im Schattenwurf der Formen erfahren diese eine zeichnerische, spielerische Fortführung, abgewandelt und temporär an die Bedingungen des Ortes gebunden. Diese mathematisch-technischen Objekte sind mit ihrem konstruktivistischen Charakter nur scheinbar von dem sie umgebenen Raum losgelöst. Spätestens in der Betrachtung, durch das In-Ein-Verhältnis-
Zueinander-Setzen mit den Betrachtenden, werden sie in ihrer eigenen Körperlichkeit und in Abhängigkeit des umgebenden Raumes konkret in diesem verankert. Diese Beziehung zu erspüren, macht den Reiz der Objekte aus.
Betrachtet man die von Hand gesägten und gebauten Objekten genauer und schaut hinter den ersten Eindruck einer perfekt geometrischen Konstruktion, werden Momente sichtbar, die den Prozess der Herstellung offenlegen. Durch sichtbare Zeichenlinien, leicht überschüssige Module und Splitterungen im Holz haftet den Objekten eine zeitlich-prozessuale Dimension an, die jenseits
konstruktivistischer Perfektion die im Werk steckende Arbeit auf seiner Oberfläche präsentiert. Wir können das Vorgehen Heidtmanns erahnen, die vorausgehenden Prozesse, die Stufen der Entwicklung, die zu diesem Endprodukt geführt haben.
Heidtmanns Werkgenese beschränkt sich jedoch nicht auf das technisch-planerischen Vorgehen. Oft entstehen aus Sägeresten eigene Objekte, unvorhergesehene Formen, Negative die zu Positiven
werden, Reste, die zu etwas Eigenständigem gemacht werden. Der damit einhergehende Vorgang der Umdeutung und Aufladung ist eng verwandt mit den Arbeiten von Michael Lukas, auch wenn sie formal kaum unterschiedlicher sein könnten.
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Inke Maria Hahnen M.A.
Auszug aus Einführung areale raum + grenzen 2022

mobile

Brigitta Heidtmann liebt die Form, das Licht, den Schatten, das Material. Als Schablone, als Objekt im Raum, inszeniert durch Licht und Schatten, sind ihre Werke aus meist unbehandelten Tischlerplatten, feinporig, samtig, in Spanten oder Flächen gesägt, geschliffen – im Tun geworden. Ein Glücksfall für den weiblichen Dreier- Künstlerbund im SG1; Stacey Blatt, Christina Böckler und Luise Hoyer, die als Kuratorinnen in ihrer kleinen, aber feinen Galerie, eine sehr sehenswerte Ausstellung, mit Herzblut, geschaffen haben.

Der Titel „mobile“ ist bei Brigitta Heidtmann Programm. Die Krefelder Künstlerin, eigentlich von der Keramikkunst kommend, schafft aus Holz oder auch Gipskarton, reine, teilweise rollbare, teils bewegliche oder auch angelehnte Objekte. Das unter ihren Händen veredelte Grundmaterial schimmert hell und weich, verbirgt sich in Nischen und Versatzstücken, ja Kulissen von Schiffsskeletten oder ähnlichen Formen, die vielleicht schwimmen, fliegen, aber zumindest in dieser Ausstellung den Eindruck des Schwebens vermittelten.

Auch könnten alle Objekte einzelne Teile eines großen freischwebenden Calder’schen Mobiles sein, das als mehrfach beweglich gestaltetes Gebilde Figuren, durch Anstoßen oder Luftzug in Bewegung gerät. Brigitta Heidtmanns Farbspektrum ist reduziert, nicht eingeschränkt, sondern gewollt naturbelassen, leicht bearbeitet und sehr fein handwerklich ausgeführt. In den hellen Räumen des SG1 fanden auch ihre kleinen Wandarbeiten einen sehr guten Platz. Alles wirkte bis ins Letzte ausgelotet, strukturiert und frei. Die schwebenden Umrisse masern die feinen, schimmernden Flächen des Raumes.

Hier ein Zitat aus der Pressemitteilung des SG1 „Wie die Holzobjekte auch, entwickeln sich die Zeichnungen, Holzschnitte, Drucke, aus dem Werkprozess heraus, wobei die verwendeten Formmotive durchaus zwischen den beiden Bereichen (Raum und Fläche) hin und her wandern“ Eine stille, sehr kontemplative Ausstellung mitten in Duisburg. Ein Ort der Besinnung durch Formensprache, der Ruhe, des Schauens und Erlebens, gemeinsam mit der Kunst von Brigitta Heidtmann.
Thomas Bremser, Rheinische Post vom 27.09.19 

KV Ebersberg »areale«

(…) Während die kartografischen Landschaften“ von Michael Lukas sich als mehrschichtige Tableaus über die Wand erstrecken, erobern Brigitta Heidtmanns Arbeiten die Ausstellung mit raumgreifendem Gestus.

Die Krefelder Künstlerin untersucht das Ineinandergreifen von Linien, Flächen und Objekten, und wie diese sich auf den Raum beziehen. Die Offenheit der Grenzen, die Kommunikation des Werkes mit seiner Umgebung werden dabei ausgelotet. Umrisse und Zeichenstrukturen erscheinen in Verdichtung, Überlagerung, Schraffur bis hin zur räumlichen Ausprägung als freistehende Skulptur im Raum oder als eigenständiges Wandreliefs, wie die Radobjekte. Diese sind zugeschnitten auf die besondere räumliche Situation im Kunstverein und sind auch in Korrespondenz mit den Tableaus von Michael Lukas entstanden. Ausgangspunkt von Brigitta Heidtmanns Raumforschung ist die Zeichnung:

Diese erweitert sich in den Raum hinein: die Themen entstehen aus den künstlerischen Mitteln selbst heraus, sowie aus dem eigenen gespeicherten Formenwissen und – vokabular, das wiederholt und variiert wird. Hieraus ergeben sich: Einfachheit, Öffnung, Grenzziehung, Teilung/Mitteilung und die Beziehung der einzelnen Teile zum Ganzen im Raum,“ beschreibt die Künstlerin den eigenen Ansatz.

Aus einfachen Formen verdichten sich ihre Objekte zu offenen dreidimensionalen Konstruktionen, deren Teile aus geschichteten Holzplatten herausgesägt und zusammengesteckt werden. Der verwendete Werkstoff bleibt unbehandelt und beschreibt die Vielfalt der Möglichkeiten als Vorstufe zu etwas Fertigem. Absichtlich vermitteln die Werke dadurch den Eindruck des „Vorläufigen“, es haftet ihnen eine gewisse Modellhaftigkeit an. Arbeitsweise und Material sind Träger der Information an sich und legen den Werkprozess offen.

Die Motive werden überwiegend aus Kreis oder Oval entwickelt und stammen aus dem eigenen Repertoire der Künstlerin, das sie kontinuierlich erweitert und bezogen auf den jeweiligen Raum anpasst. Sie lassen an architektonische Formen denken. Wenn sie als Strebepfeiler aus der Wand wachsen oder sich als Kuppelsegment über den Boden spannen, verbinden sie sich mit dem Raum selbst. Brigitta Heidtmann generiert Zeichen aus vergangenen Arbeiten, welche durch Überlagerungen der Umrisse entstehen. Sie muten wie Piktogramme an.

Ihre Herangehensweise ähnelt der der kartografischen Disziplin. Aus einer Fülle an Originaldaten ist es ihre Aufgabe, die wichtigsten oder typischen auszuwählen, um sie dann als kartografische Zeichen, sogenannte Signaturen, für die Darstellung zu generalisieren. Die Veranschaulichung der Originaldaten, die Gestaltung und Anordnung der Signaturen müssen so ausgeführt werden, dass die zu vermittelnden Informationen leicht aufzunehmen und zu verstehen sind. Letztlich soll vom Originalraum ein Modell erstellt werden. Es geht darum, eine Vorstellung vom Original zu gewinnen, und die im Gedächtnis befindliche kognitive Karte zu erweitern oder zu korrigieren.

Hier knüpft Brigitta Heidtmann an, setzt ihre Objekte als zwei- und dreidimensionale Signaturen prägnant und präzise in den Raum. Inszeniert in rhythmischer Anordnung treten sie mit ihrer Umgebung und den Betrachtenden in Beziehung. Und trotz ihrer scheinbaren Unbeweglichkeit wirken sie dynamisch, so als ob sie sich gleich im nächsten Moment aus der Erstarrung losreißen wollten. Auch die Betrachtenden sind in Konfrontation mit den Arbeiten permanent in Bewegung. Voraussetzung dafür ist die Konzeption eines auf Allansichtigkeit hin ausgerichteten Werkes, das umschritten werden kann. Je nach Blickwinkel ändern sich die Silhouette und die Erfahrbarkeit der Einzelformen.
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Stephanie Lyakine-Schönweitz, Kunsthistorikerin. Eröffnungsrede zur Ausstellung  »areale« 2019

Brigitta Heidtmann, REMISE

Die Krefelder Künstlerin Brigitta Heidtmann zeigt im Pavillon des Gerhard Marcks Hauses fünf einfache runde Formen. Ihre räumlichen Arbeiten entstehen aus der Zeichnung und im Fall dieser fünf Objekte kann man sich gut vorstellen, wie die Form aus Gipsplatten herausgeschnitten und dann dupliziert wurde. Im nächsten Schritt wurden diese Plattenpaare mit einem gewissen Zwischenraum zusammen montiert und dadurch entstehen Labilität oder Stabilität. Diese einfachen Körper werden in den Raum gestellt.
Der Übergang von der zweiten in die dritte Dimension ist genauso einfach wie mysteriös, da die Anzahl der visuellen Möglichkeiten – auch mit einfachen Formen – exponentiell zunimmt. Dazu kommt, dass, sobald Objekte im Raum platziert werden, auch die Position des (sich bewegenden) Betrachters Bedeutung bekommt und dann auch die Höhe der Objekte (sie sind lebensgroß) wichtig wird. Bildhauerei kann sich nicht bewegen, aber sie kann über tatsächliche oder vermeintliche Instabilität Spannung vermitteln. Mit so genannten minimalen Positionen tun sich viele Besucher in Museen schwer. Das liegt daran, dass die Kunst immer weiter von der scheinbar einfachen Erfahrung abgekoppelt wird, damit der Apparat, der zwischen Kunst und Betrachter steht, möglichst groß gehalten werden kann. Das ist schlecht für die Kunst, da sie immer stärker an Kriterien gemessen wird, die nichts mit ihr zu tun haben (und es ist schlecht für den Apparat, weil er sinnlos wird). Arbeiten wie die von Brigitta Heidtmann sind so etwas wie eine notwendige Erdung, da sie die Erfahrung des Betrachters im Raum in den Mittelpunkt stellen. Museen brauchen nicht Disco vorzutäuschen, damit Besucher in den Räumen bleiben; sie müssen vermitteln, wie wertvoll die scheinbar einfache Erfahrung vor einem minimalen Objekt ist.

Dr. Arie Hartog, Gerhard-Marcks-Haus Bremen, anlässlich der Ausstellung »Remise« im Pavillon des Gerhard-Marcks-Hauses, 2014

Pánta rhei

Grundsätzlich sind es einfache Materialien, denen Brigitta Heidtmann ihr Augenmerk schenkt. Viele Jahre nutzt die Künstlerin beispielsweise gebrannten Ton, den sie ohne weitere Veredelungen in skulpturale Werke überträgt. Bereits 1990/91 bildet sie auf diese Weise die Formen eines Stuhles ab, um sie anschließend in einzelnen Teilen an der Wand zu präsentieren. Merkmal dieser Arbeit ist bereits Heidtmanns Interesse an der Grenze zwischen dreidimensionalem Objekt und reliefartiger bzw. flächiger Struktur, die sie später auch in der Serie der Würfelarbeiten aus Ton oder bemaltem Holz erforscht. Diese meist in Gruppen präsentierten Werke weisen entweder tatsächlich Löcher oder Schnitte in der Oberfläche auf, oder suggerieren den Eindruck von Räumlichkeit durch entsprechende schwarze Bemalung. Auch weitere Arbeiten auf bemalten hölzernen Bildträgern leben von dem Spiel unterschiedlicher Realitätsebenen, indem sie mit hölzernen Kästen, deren Oberflächen wiederum teilweise perforiert sind, kombiniert werden. Mehrfach nutzt die Künstlerin in diesem Sinne üerdies Dachlatten, die als Sammlung an die Wand gelehnt werden und dort durch ihre verschiedenen Oberflächenbehandlungen in einen offenen Dialog treten. Brigitta Heidtmann bedient sich dabei absichtlich der Wand als verbindendes Element, über das der Betrachter Gemeinsamkeiten und auch Unterschiede der einzelnen Werke erkennen kann. Die Wand gleicht damit einer übergeordneten Metaebene, die zugleich Plattform ist für die Fantasie, in der sämtliche Arbeiten nach den Vorstellungen des Betrachters in neue Konstellationen gebracht werden können.

Seit Anfang 2007 verwendet Brigitta Heidtmann Gipskartonplatten aus dem Baumarkt für ihre Arbeiten. Durch den Rückgriff auf diesen im Prinzip banalen Werkstoff bleibt sie ihrer Materialverbundenheit treu, zumal die Platten, wie einst der gebrannte Ton, ohne aufwändige Veredelungen auskommen. Immer wieder finden sich auf den, mehrfach mit Holz kombinierten Objekten Konstruktionszeichnungen, die, wie auch zahlreiche Verschraubungen oder farbige Überarbeitungen, selbst gestaltgebende Funktionen innehaben. Absichtlich vermitteln die Werke dadurch den Eindruck des „Vorläufigen“, vielleicht sogar „Unfertigen“, das an jene von Widersprüchen und Gemeinsamkeiten geprägte Offenheit früherer Arbeiten anknüpft. Und auch die Präsentation der neuen Objekte in einem von Intuition gelenktem Ensemble trägt die bekannte Handschrift des Gesamtwerkes, das dabei zugleich von mehreren wesentlichen Neuerungen durchdrungen ist. So wechselt die Künstlerin konsequent von der Wand als Plattform für die Arbeiten zur Bodenfläche des Raumes, der damit die Funktion jener Metaebene übernimmt. Voraussetzung dafür ist die Konzeption eines auf Allansichtigkeit hin ausgerichteten Werkes, das vom Betrachter umschritten werden kann.

Die neuen Objekte aus Gipskarton verdeutlichen radikal eine Entwicklung im Werk von Brigitta Heidtmann. Das Material, im eigentlichen Sinne selbst als Wand zu betrachten, verliert seine dienende Funktion als Bildträger. Zugleich wird das Thema Raum und Räumlichkeit, das in den früheren Arbeiten aus Ton, Holz und Farbe mehrfach ausgelotet worden ist, akzentuiert. Konsequent modifiziert Heidtmann in diesem Kontext auch ihre Formensprache und entwickelt Arbeiten in überwiegend runder Gestalt wie Kreis, Dragée oder Hufeisen und deren Ableitungen. Einzelne Turmobjekte aus Dachlatten erinnern vage an die frühere Würfel- oder Kastenform der Werke, wobei auch hier ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat. Denn, wo ehemals das Holz Bildträger und zugleich als deren Rahmen dienlich war, stellt es sich jetzt in eigenständiger Funktionalität als Objekt dar.

So ist das Werk von Brigitta Heidtmann in Bewegung. Über die Jahre hinweg lassen sich immer neue Entwicklungen nachvollziehen, wobei die Künstlerin grundsätzliche Merkmale kontinuierlich vorantreibt. Entsprechend sind auch die aktuellen Objekte von einer spielerischen Leichtigkeit durchdrungen, wie sie sich im Gesamtoeuvre nachvollziehen lässt. Bei aller Authentizität und Ernsthaftigkeit scheut Heidtmann nie den Witz in ihrem Werk, der sich in schmeichelnden Formen, variationsreichen Materialien und vor allem der Möglichkeit des Betrachters, überraschende Zusammenhänge und Widersprüche zu erkennen, manifestiert. Auch der Betrachter ist in der Konfrontation mit den Arbeiten von Brigitta Heidtmann permanent in Bewegung, woraus eine jahrelange und auf Jahre hin ausgerichtete Freundschaft resultiert.

Dr. Christian Krausch, Text im Katalog »Zeichnung und Objekt« des Kunstvereins Nümbrecht, 2007

Eine fesselnde Einheit von Objekt und Raum

(…) Die Bildträger wirken als Akzente innerhalb eines großen Ganzen. Zwar haben die einzelnen Kunstwerke eine besondere eigenständige Bedeutung; demgegenüber entsteht jedoch eine neue Bedeutung durch den wechselseitigen Zusammenhang der Wandobjekte untereinander, wobei die Wand der Galerie stets einen verbindenden Faktor darstellt. Sowohl die Bildträger als auch die Wand der Galerie – mit ihrem neuen wechselseitigen Zusammenhang – bilden während der Dauer der Ausstellung miteinander ein neues Kunstwerk. Daher tendiert ihr Werk mehr in Richtung Installation. Heidtmann richtet ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf ihre Arbeiten selbst, sondern auch auf den Raum, in dem ihre Arbeiten optimal zur Wirkung kommen. Ihrem Streben kommen die weißen, äußerst nüchternen Galeriewände hervorragend entgegen.

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Die Farbschichten behalten einen transparenten Charakter; hierdurch haben die Arbeiten keine Schwere, sondern eher eine gewisse Verspieltheit. Die Darstellungen sind spontan, hell und einfach. Sie haben archaischen Charakter. (…) Man kann von äußerster Einfachheit und doch von einer fühlbaren Ausstrahlung sprechen, die vom Raum Besitz ergreift. Die strengen Formen – zuweilen mehrteilig – werden durchbrochen durch graphisch wirkende spontane Linien, die trotz ihres graphischen Charakters äußerst fühlbar und lebendig sind und daneben auch Bewegung suggerieren. Wichtig für Heidtmann ist das Zusammenspiel zwischen dem Raum, insbesondere der Wand, und dem Bildträger, daneben aber auch die sorgfältige Komposition – man kann hier von Harmonie sprechen. Trotz der Spontaneität hat alles seinen Platz, und ein Gefühl der Ruhe hält den Betrachter in seinem Bann.

Harrie Schennig zur Ausstellung in der Galerie bij de boeken, Ulft (NL) 2004 (Auszug)
Übersetzung: K.H. Rullmann 

David und Goliath

1990/91 bedient sich Brigitta Heidtmann eines einfachen hölzernen Küchenstuhls, den sie Seite für Seite in Ton abformt, um die so entstandenen einzelnen Teile nebeneinander an der Wand anzulehnen. Aus der Dreidimensionalität in die Fläche geklappt, unterliegt der Stuhl auf dieser Weise einer Transformation von der Skulptur zum Relief, das eine Allansichtigkeit des Objektes auf einen Blick erlaubt. Seiner eigentlichen Funktionalität enthoben, gewinnt der Stuhl an neuen Aussagen, wovon die des zeichnerischen Charakters Brigitta Heidtmann besonders fasziniert. Der Stuhl in seinen nebeneinandergestellten Abformungen wird zur plastischen Zeichnung und die Wand damit zum Zeichenblatt. Brigitta Heitdmanns weiteres Augenmerk gilt dieser weißen Wand, da sie es ist, die als Aktionsfläche mit den an ihr aufgereihten Objekten korrespondiert.

1999, rund acht Jahre nach der Abformung des Stuhles, ist die Einbeziehung der Wand erneut wesentlicher Bestandteil des keramischen Werkes von Brigitta Heidtmann. Von der Abbildhaftigkeit losgelöst, wie sie 1996 noch in der Abformung einiger gestapelter Europaletten für eine Ausstellung in industrieller Umgebung anzutreffen ist, bedient sich die Künstlerin klarer geometrischer Formen, die sie zum Ausgangspunkt ihrer Arbeiten nimmt. Vornehmlich die Gestalt eines quadratischen Kästchens und seiner rechteckigen Abwandlung wird zu mehrteiligen Objekten arrangiert, die allein schon durch die jeweilige Präsentation an der Wand an Spannung gewinnen. Hinzu kommt die differenzierte Oberflächengestaltung sowie die Materialkombination aus Ton und Holz, die den einzelnen Gruppierungen enorme Dynamik verleihen.

Jedes abgebildete Arrangement aus vier bzw. zwei einzelnen Elementen lebt von der Beziehung der jeweiligen Objekte zueinander, die unabhängig voneinander entstehen und erst durch die Gruppierung ihre spezielle Bedeutung erfahren. So findet etwa die unregelmäßige, gezeichnete Kreisform einer Arbeit ihr Pendant in vier vergleichbaren Öffnungen der zugehörigen daneben. Die tatsächliche Raumhaltigkeit des rechteckigen Objektes wiederum verliert sich dagegen in der scheinbaren Tiefe der ihm zugeordneten schwarz bemalten Arbeit. Von eins bis vier schließlich steigt die Zahl der zeichnerischen oder realen Eingriffe in der Gruppe der vier Kästchen, die allein dadurch schon einen Zusammenhang finden. Hinzu kommt das verbindende Element des Rhythmus`, der sich in allen Gruppierungen unterschiedlich nachweisen lässt. Über die erwähnte Reihung von eins bis vier hinaus, klingt er an im kreisformaufgreifenden Spiel der einen, sowie im Wechsel zwischen Raum und Schein der anderen Zweiergruppe.

Dem 1990/91 entwickelten Gedanken der Abformung folgend, bedient sich Brigitta Heidtmann bei ihren Arbeiten des Kästchens, dessen hölzerne Gestalt sie in das Material Ton überträgt. Dabei ermöglichen ihr die verschiedenen Materialien unterschiedliche Bearbeitungen der Schauflächen, die sich entweder als hölzerne Zeichenflächen geben, oder durch Kerben, Schnitte und Öffnungen im Ton strukturiert sind. Gleich ihrer einstigen Transformation des skulpturalen Objektes Stuhl über das Relief in eine der Zeichnung angenäherte Form, überträgt Brigitta Heidtmann in den Arbeiten von 1999 die Sprache der Zeichnung auf das dem üblicherweise skulptural eingesetzten Material Ton. Ein Dialog entsteht, der spannungsvoll das Wechselspiel zwischen Objekt und Zeichnung thematisiert. Sämtliche Arbeiten berichten über die überraschenden Möglichkeiten verschiedener Materialien, deren gängige Definitionen wie Dichte bzw. Offenheit leichtfüßig in Frage gestellt werden.

Plattform des Dialoges ist die Wand, die den rahmenlosen Arbeiten eine weitere Aufgabe stellt. Hier müssen sie sich in ihrer geringen Größe nicht nur untereinander, sondern auch gegen die leere Fläche behaupten. Die Kleinheit lenkt bewusst alles Augenmerk auf die einzelnen Objekte, die auf stille Art von großer Wirkung sind. Brigitta Heidtmanns Werk wirkt erfrischend verspielt und emotional. Humor schwingt mit, wenn der Zwerg sich auf der gewaltigen Wand behaupten muss – und gewinnt.

Dr. Christian Krausch im Katalog »Feuerwerke« zum Künstlerinnenpreis NRW im Bereich Keramik 1999