Wahrnehmungsangebote
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Lange vor dem Ausbruch aus dem euklidischen Raum durch Einstein, Bohr und Poincaré – oder durch Braque, Picasso und Malewitsch – veröffentlichte 1884 der englische Schuldirektor und Theologe Edwin A. Abbott ein Buch, das unsere „natürliche“ Wahrnehmung der Welt regelrecht auf den Kopf stellte. In „Flatland – A Romance of Many Dimensions By A Square“ erzählt Abbott von einem zweidimensionalen Wesen aus dem „Flächenland“, das sich in ein-, drei-, vier- und sogar nulldimensionale Räume hineinträumt. Dabei geht der Wechsel von einer Dimension in die nächste nicht nur mit einer dramatischen Ausweitung der Perzeption, sondern vor allem mit einer Neubewertung der gesellschaftlichen Ordnung einher – wer die Welt anders sieht, deutet und versteht sie anders. Die Wanderung des A. Square, jener Hauptfigur in Abbotts Novelle, wurde übrigens zu einem populären Erfolg und wirkte sich bewiesenermaßen auf die Genese des Kubismus aus.
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Wie mir scheint, geht es in dieser Kunst einerseits um die Bezüge von geometrischen Gebilden zueinander und andererseits – und vor allem – um die Bezüge von geometrischen Gebilden zum Körper des Betrachtenden. Die Wechselwirkungen zwischen einem rezipierenden Subjekt und einem Objekt, jener stumme, vielleicht unbewusste, jedenfalls körperliche Dialog, den jede Konfrontation zwischen Mensch und Ding hervorruft, ist ein zentraler Schlüssel der Erfassung von Heidtmanns skulpturaler Praxis. Ohne Publikum, ohne einen zuschauenden und reflektierenden Adressaten, haben diese Objekte keine Bedeutung. Neurologen haben festgestellt, dass das Gehirn eher an den Verhältnissen der Dinge zueinander und zum Raum interessiert ist als an den Dingen an und für sich. Dieses Interesse steigert sich noch, wenn es sich auf die Verhältnisse eines Dings zum eigenen Körper ausrichtet – der Raum, befreit vom darin handelnden Subjekt, ist nichts. Wir werden ständig von Relationen getriggert; viel stärker als die platonischen Gesetzmäßigkeiten der Geometrie nimmt der Mensch Verknüpfungen und Beziehungen wahr. Daran erinnert uns die Kunst von Brigitta Heidtmann.
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Ich möchte daher die Kunst von Brigitta Heidtmann als Wahrnehmungsangebot bezeichnen. Sie ist eine Übung im Wahrnehmen von Objekten, vom Raum und vom eigenen Platz in dem Raum; eine Übung zur Schärfung unserer Sinnesorgane, zur ständigen Überprüfung der physikalischen Welt und zur genauen, emotionsbefreiten Erfassung der in ihr enthaltenen Gegenstände. Die Künstlerin lädt zum präzisen Schauen von Längen-, Höhen- und Breitenverhältnissen ein, sie lädt zum ausdifferenzierten Betrachten von Oberflächenstrukturen und von grafischen Ordnungen ein, sie lädt zur Steigerung unserer Sensibilität für den Raum ein. Zu diesem Zweck stellt sie visuell-logische Rätsel in Form von Objekten und Installationen in den Raum, die es zu knacken gilt. Sie geht vom eigenen Spieltrieb aus, löst aber bei den Rezipientinnen und Rezipienten eine vergleichbare Lust aus, Wiederholungen und Variationen zu suchen, gestalterische Beziehungen zu entdecken, perzeptorische Sicherheiten infrage zu stellen. Die Kunst von Brigitta Heidtmann hat also etwas von einer Übung in angewandter Mathematik, in praktischer Geometrie – eine Übung im Sehen. Übrigens ist eine solche Übung nicht nur nützlich zur Entwicklung seiner perzeptorischen Fähigkeiten, sondern allgemein für die Bestimmung des eigenen Standortes und der Position, die darin eingenommen wird – denn wer die Welt genauer sieht, deutet und versteht sie genauer.